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Märchen sind Seelennahrung

Vor 30 Jahren wurden die Schweizerische Märchengesellschaft und der Churer Märchenkreis gegründet. Ein Gespräch darüber, warum Märchen heute aktueller sind denn je.

Bündner Woche
04.04.24 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Eine schöne Botschaft: Märchen gehen immer gut aus.
Eine schöne Botschaft: Märchen gehen immer gut aus.
Cindy Ziegler

von Cindy Ziegler

Eine Geschichte über Märchen mit «es war einmal …» zu beginnen, ist nicht gerade elegant. Und vielleicht ist diese Formulierung gar überstrapaziert. Und dennoch passt sie in diesem Fall sehr gut. Denn sowohl die Schweizerische Märchengesellschaft wie auch der Churer Märchenkreis feiern heuer ihr 30-Jahre-Jubiläum. Zeit also, zurückzublicken. Und deshalb: Es war einmal …

Doris Portner hat den Churer Märchenkreis vor drei Jahrzehnten gegründet. Zum Gespräch steht sie im Saal von Plana­terra 11 in Chur. Im Rahmen der Märchenstafette der Schweizerischen Märchengesellschaft werden an jenem Mittwochnachmittag im März Märchen ­erzählt. Zu Doris Portner gesellt sich Daniela Simeon. Auch sie ist eine Märchenerzählerin. Zusammen organisieren sie mit anderen monatliche Märchenabende für Erwachsene. 

Ja, richtig gelesen. Märchen für die Grossen. «Märchen sind ursprünglich etwas für Erwachsene», erklärt Daniela Simeon. Und es gebe tatsächlich Märchen, die sie Kindern nicht erzählen würden. Aber dennoch. Zu brutal für Kinder seien Märchen nicht. «Kinder machen sich ihre eigenen Bilder vom Bösen, wenn sie ein Märchen erzählt bekommen», ergänzt Doris Portner. Und so nehmen die Kleinen genau das aus der Geschichte, was sie gerade brauchen. «So ist das auch bei Erwachsenen. Das Böse gehört zum Leben. Märchen gehen dabei aber immer gut aus. Das ist die schönste Botschaft.»

Aus einer Zeit, die schon sehr lange zurückliegt

Ein kurzer Blick rundherum. Vorne ist eine kleine Szene inszeniert. Auf einem Tisch steht ein Kübel mit roten Rosen. Am Fusse des Tisches ist ein kleiner Holzkorb platziert. Im Hintergrund eine weisse Leinwand und farbige Tücher. Die Musikerin und die Musiker beginnen sich einzuspielen. Feine Musik, die dann immer lauter wird. Sie tragen mit Klängen aus der Heimat in die Ferne. Die beiden Erzählerinnen hören kurz zu und kommen dann zurück zum Gespräch. «Grundsätzlich sind Märchen Bilder. Sie haben etwas Archaisches und stammen aus einer Zeit, die schon sehr lange zurückliegt. Früher war man ganz anders mit der Natur verbunden und das liest man auch aus den Märchen», sagt Doris Portner. Ihre Kollegin nickt und ergänzt: «Märchen sind Volksweisheiten. Es sind keine künstlich konstruierten Geschichten, sondern solche, die man gesammelt, erzählt und überliefert hat.» 

In Graubünden gebe es einen riesigen Schatz an Märchen. Schon früh hätten Sammlerinnen und Sammler Märchen aufgeschrieben. «Zum Glück», sagt Doris Portner. Sie erwähnt Caspar Decurtins, der in der Surselva Märchen zusammengetragen hat. Und Gion Bundi, der dasselbe im Engadin gemacht hat. Und sie erwähnt auch Ursula Brunold, die die Geschichten vom Romanischen ins Deutsche übersetzt hat. Ein grosser Märchenschatz, aus dem die beiden Frauen und die weiteren Erzählenden, Nadja von Planta und Matthias Küchler, an jenem Mittwoch schöpfen.

Langsam füllt sich der Saal. Zwei Mädchen sitzen aufgeregt auf den Stühlen, ansonsten sind es tatsächlich Erwachsene, die sich auf die Märchenstunde freuen. Die beiden Frauen sind nicht überrascht. «Märchen sind Weggeschichten. Und wir sind ja alle auf dem Weg», sagt Daniela Simeon schlicht. Wenn sie und Doris Portner über Märchen sprechen, erzählen sie. Beide haben eine ausgeprägte Mimik und Gestik. Und beide haben eine ruhige, angenehme Stimme.

Volkserzählungen und Volksmusik: Das passt zusammen. So auch bei der Märchenstafette.
Volkserzählungen und Volksmusik: Das passt zusammen. So auch bei der Märchenstafette.

Dass Märchen noch heute Bedeutung haben, zeigen auch nüchterne Zahlen. Als die Schweizerische Märchengesellschaft gegründet wurde, kamen 30 Leute zusammen. Heute seien es rund 500 Mitglieder. Das weiss Doris Portner, selbst Gründungsmitglied. Und auch bei den Erzählabenden in Chur seien seit 30 Jahren immer Leute da. Noch nie sei eine Veranstaltung abgesagt worden. Und noch nie sind die Erzählerinnen und Erzähler alleine da gesessen. 

Haben Doris Portner und Daniela Simeon ein Lieblingsmärchen? Die beiden Frauen überlegen ganz kurz, lächeln und meinen unisono «ja». «Das räudige Füchsli» ist es bei Daniela Simeon. Ein Bündner Märchen. «Ich finde Bündner Märchen besonders schön. Von den Bildern und den Örtlichkeiten her.» Doris Portners Märchen führt in die Ferne. «Meines ist ein russisches. Für mich haben russische Märchen etwas Besonderes. Man sagt, dass Märchen die wahre Seele eines Volkes widerspiegeln. Wenn ich verreise, lese ich deshalb gerne Märchen von dem Ort, den ich besuche.»


Eine universelle Botschaft

Die Botschaft von Märchen sei ohnehin universell und könne auf das Leben übertragen werden. Man muss kämpfen. Man geht durchs Dunkle und begegnet dem Bösen. Und doch ist da immer wieder Licht. «Es sind Bilder, die nicht an Wichtigkeit und an Intensität verlieren. Wenn wir erzählen, dann merken wir das. Kinder hören heute noch genauso zu wie damals. Und auch die Erwachsenen lauschen gebannt den Erzählungen. Märchen sind Seelennahrung», sagt Doris Portner. Die beiden Frauen schätzen es, dass sie die Zuhörenden mitnehmen können in eine andere Welt. Dass sie nur mit Sprache ein Eintauchen ermöglichen. Dass sie in Zeiten von Krieg, Krisen und viel Bösem zeigen können, dass es immer auch das Gute gibt.

Die Musik spielt das Eingangsstück. Viele im Publikum haben die Augen geschlossen und lassen sich einstimmen. Volkserzählungen und Volksmusik, das passt zusammen. Dann beginnt Doris Portner. Sie erzählt ein Märchen aus der Surselva. Sofort ist sie in ihrem Element. «Vor langer, langer Zeit lebte einmal ein Müller. Es war Winter und der Müller musste auf den Markt. Bevor er sich aufmachte, fragte er seine drei Töchter: ‘Was soll ich euch mitbringen von Markt?’ Die älteste sagte: ‘Ich will ein schönes Kleid.’ Und die mittlere meinte: ‘Oh, ich will auch ein sehr schönes Kleid.’ Und die jüngste sagte: ‘Vater, ich hätte so gerne eine rote Rose.’» Eine rote Rose im Winter? Das hat seinen Preis …

Jeden letzten Mittwoch im Monat organisiert der Churer Märchenkreis einen Erzählabend für Erwachsene. 
Dieser findet jeweils um 20.15 Uhr im Planaterra 11 in Chur statt. Der nächste Termin ist der 24. April. 


 

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