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«Ich will durch Ängste hindurchgehen und ihnen nicht ausweichen»

Nicht zum ersten Mal muss Marlen Reusser ein Rennen, das im Spital endet, verarbeiten - physisch und psychisch. Im Fall des Crashs an der Flandern-Rundfahrt scheint dies gut geklappt zu haben.

Agentur
sda
25.04.24 - 21:48 Uhr
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Hat ihr Lächeln längst wieder gefunden: Marlen Reusser
Hat ihr Lächeln längst wieder gefunden: Marlen Reusser
KEYSTONE/GEORGIOS KEFALAS

Einzig eine kleine Narbe am Kinn deutet noch darauf hin, dass die Bernerin vor einem Monat unverschuldet fürchterlich zu Fall kam. Die Brüche des Kiefers, der beiden Gehörgänge sowie von neun Zähnen sind schneller verheilt, als erwartet. Sie sei wieder «gsund und gfrässig» meinte die 32-Jährige als Einstieg zum Interview unmittelbar vor dem Abflug nach Spanien, wo sie ab Sonntag an der Vuelta wieder ins Renngeschehen eingreift.

Marlen Reusser, sind Sie auch erstaunt, dass Sie bereits für Rennen einsatzfähig sind?

Marlen Reusser: «Ja und nein. Ich bin selber überrascht, wie schnell ich mich regenerieren konnte. Andererseits habe ich als Ärztin gleich nach dem Sturz gewusst: Es muss zwar etwas gebrochen sein, aber ich bin nicht ernsthaft verletzt. Nichts Vitales scheint betroffen zu sein. Es wird nicht all zu grosse Auswirkungen auf die Physis haben.»

Ist es schwieriger, einen unverschuldeten statt selbstverschuldeten Sturz mental zu verarbeiten?

Marlen Reusser: «Nein. Klar ist im ersten Moment der Frust da. Es nervt einen, weil man toll in Form war. Aber wer den Radsport betreibt, der muss damit rechnen, dass er stürzt. »

Und Sie sind ja leider reich an Sturzerfahrungen.

«Ja. Und deshalb weiss ich, dass Zeit die Wunden heilt. Und ich will durch Ängste hindurchgehen und ihnen nicht ausweichen. Ich traue mich auch wieder in Rennen rein, obwohl da immer gemischte Gefühle dabei sind.»

Ihre lange Verletzungsliste ist um einen Eintrag länger. Der erneute Crash brachte demnach das Fass nicht zum Überlaufen, Sie haben sich die Sinnfrage nie gestellt, oder?

«Die Sinnfrage habe ich mir früher gestellt und mit 'Ja' beantwortet. Du musst als Radfahrerin Frieden schliessen können mit dem Gedanken, dass es auch Dich erwischen kann. Ich brach auch nicht in Hektik aus. Ich sah meine Ziele in dieser Saison nie gefährdet. Noch bleibt genügend Zeit.»

Diese Ziele sind bestimmt hochgesteckt. Gold an den Olympischen Spielen in Paris und an der Heim-WM in Zürich liegt drin.

«Wenn ab jetzt nichts mehr schief läuft, werde ich in den beiden erwähnten Zeitfahren sehr, sehr schnell sein. Ich sage es so: Gold ist nicht aus der Reichweite gerückt.»

Denken Sie, dass Sie weiterhin ans Limit gehen können?

«Ich gehe nie ein zu grosses Risiko ein, ich gehe nie ans Limit. Ein gesundes Vertrauen und Gefühl für Material und Strasse ist dabei sicherlich hilfreich.»

Sie studierten Medizin, wurden Ärztin und kamen erst mit 25 Jahren als Quereinsteigerin zum Radsport, seit 2019 sind Sie Profi. Auch Sie mussten die Technik des Radrennsports erst noch erlernen. Wie beurteilen Sie Ihre technischen Fähigkeiten?

«Ich gehöre inzwischen bestimmt auch technisch zur besseren Hälfte des Feldes.»

Und wie stufen Sie das Feld der Frauen-Elite, das mit 45 km/h Seite an Seite durch die Gegend braust: Stecken da zu viele, technisch schlechte Fahrerinnen drin?

«Diese Frage trifft meine Nerven. Die Frauen fahren nicht schlechter als die Männer. Aber es gibt Fahrer beider Geschlechter, die gefährliche, unnötige Manöver fahren. Die Unfall-Verursacherin bei der Flandern-Rundfahrt werde ich jedenfalls noch sprechen.»

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