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Heilsbringer oder Teufelszeug?

Nach europaweiten Studien leidet etwa jede dritte bis vierte Person irgendwann in ihrem Leben an mindestens einer psychischen Störung. Die Leitlinienbehandlung sieht nicht bei allen, doch bei vielen Störungsbildern die Psychotherapie als Mittel erster Wahl.

Davoser
Zeitung
09.05.24 - 12:00 Uhr
Menschen & Schicksale
Der Weg heraus aus einer Depression ist oft sehr schwer.
Der Weg heraus aus einer Depression ist oft sehr schwer.
SO (Yanik Bürkli)
In akuten Krisen, bei schweren psychischen Störungen, bei denen Psychotherapie allein nicht oder nicht ausreichend hilft, zur Sicherstellung von notwendiger Leistungsfähigkeit, und für gewöhnlich bei Vorliegen einer ADHS, werden zusätzlich Psychopharmaka verschrieben. Das Wort Psychopharmakon entstammt dem Griechischen und beinhaltet das Wort für Seele (Psyche) sowie das Wort für Heilmittel (Pharmakon). Entsprechend handelt es sich um ein Medikament zur Therapie von psychischen Symptomen und Störungen.

Das Anwendungsgebiet ist vielseitig, von Depressionen über Angststörungen, Schmerzstörungen, Schizophrenie und weiteren Störungen. Entsprechend gibt es verschiedene Substanzklassen, die unterschiedlich ansetzen und wirken. Die wohl am besten bekannte Substanzklasse ist die der Antidepressiva, mittels welcher Depressionen, aber auch Angst-, Zwangs-, Persönlichkeits-, Schlafstörungen behandelt werden.

Stimmungsaufhellendes Medikament

Dieses Medikament wirkt meist stimmungsaufhellend, und je nach Präparat gelingen darüber hinaus weitere Symptomverbesserungen. Daneben gibt es Antipsychotika, die bei schizophrenen und psychotischen Störungen eingesetzt werden, sowie Stimulanzien, die sich nicht selten als unverzichtbar bei der Behandlung von ADHS erweisen. Gemäss dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium von 2022 sind Psychopharmaka die hierzulande am häufigsten verschriebene Medikamentengruppe. Weiter gehört knapp ein Viertel aller Medikamentenpackungen, die bei uns über den Ladentresen verkauft und von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) rückvergütet werden, dieser Gruppe an. Nach Medikamenten gegen Krebs und für das Immunsystem geht der zweitgrösste Kostenanteil auf ihr Konto. Dabei kommt das Gros der durch diese Medikamente verursachten Kosten von obgenannten Antidepressiva. Auf ungefähr 200 Millionen Schweizer Franken jährlich schätzt die Ärztin Eva Blozik die Kosten von Antidepressiva. Wer so hohe Kosten verursacht, sollte etwas leisten. Während eine ganze Reihe von Psychopharmaka eine akzeptable Wirksamkeit aufweist, beispielsweise Antipsychotika bei Schizophrenie, fällt diese gerade für Anti­depressiva eher deprimierend aus.

Entsprechende Wirksamkeitsstudien zu Antidepressiva lassen erkennen, dass diese gegenüber Placebos eine nur unwesentlich bessere antidepressive Wirkung haben.

Schwer wegzudenken

Und doch stehen viele Fachleute hinter dem Einsatz dieser Medikamente, wie der Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich Erich Seifritz, der 2019 in einem Interview Antidepressiva als «unverzichtbaren Baustein in der Behandlung» ansieht. Und ehrlich gesagt, aus meiner psychotherapeutischen Praxis sind Psychopharmaka ebenfalls schwer wegzudenken. Sie unterstützen das psychotherapeutische Geschehen und sind in manchen Fällen wegbereitend für den therapeutischen Prozess. So kürzlich bei einer Patientin, die wegen schwerer Ängste und fortlaufender Krisen in Psychotherapie war. Erst seit der Einnahme von Antidepressiva war es möglich, psychotherapeutisch mit ihr zu arbeiten und nicht nur Krisenintervention zu betreiben.

Alternativen fehlen oft

Zu einem Patienten mit einer schweren depressiven Störung war vor der Einnahme von Antidepressiva nicht durchzudringen, erst antidepressiv behandelt, war es möglich, überhaupt mit ihm ein Gespräch zu führen. So sind es dann doch diese Medikamente, in Ermangelung von Alternativen, die nicht selten einen Unterschied machen und einen wichtigen Schritt in Richtung Genesung darstellen können, aber nicht müssen.

Dr. phil. Sandy Krammer, LL.M.

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