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Lawinenkurs: Vertrauen in sich und die Berge

Wir erleben ein Tag voller Eindrücke bei einem Lawinenkurs und alpiner Abseilaktion mit Sepp Stenger. Von der Vorbereitung, über den Aufstieg bis zum Abstieg ins Tal – wir nehmen euch mit.

Bündner Woche
25.02.24 - 11:00 Uhr
Leben & Freizeit
Sepp Stenger, Tourenführer und zertifizierter Lawinenexperte.
Sepp Stenger, Tourenführer und zertifizierter Lawinenexperte.
Bild Jasmin Klucker

von Jasmin Klucker

«Sich den Herausforderungen der Natur stellen. Den Körper und den Geist kitzeln, grandiose Momente geniessen. Im Einklang der Elemente, die Mystik in sich aufsaugend, sich dem Leben in seiner wahren Intensität hingebend, unberührte Powderhänge durchsieben. Mit dem Safety Equipment im Gepäck und einer soliden Lawinenausbildung erhöhst du dein Level an Sicherheit und bist bereit, solltest du bei deinem Abenteuer am Berg in eine missliche Situation geraten. Ich habe mir zur Aufgabe gemacht, allen Schneehungrigen mein Wissen weiterzugeben, um dem Ruf der Berge sicher und mit der nötigen Sensibilität zu folgen.» Mit diesen Worten heisst uns Sepp Stenger herzlich willkommen zum heutigen Lawinenkurs. Bedeutsame und weise Worte aus dem Mund eines Mannes, der es sich im Leben zur Aufgabe gemacht hat, einfach zu leben. Und das im Einklang mit der Natur und den Bergen. Sepp Stenger, Tourenführer und zertifizierter Lawinenexperte, ist einer, der weiss, wie man sich in den Bergen bewegt. Von ihm lernen wir heute die wichtigsten Dinge, die man im Umgang mit Lawinen wissen muss. «Wenn man das Vertrauen zu sich selbst und den Bergen hat, kann fast nichts passieren.» Trotzdem sei es wichtig, zu wissen, wie man handeln muss. Und das in extremen Stresssituationen. «Das,was ich hier auf dem Übungsplatz vorbereitet habe, ist nicht annähernd dem Schnee einer Lawine ähnlich und schon gar nicht das Gelände, welches man im Hochgebirge antrifft», macht Sepp Stenger klar.

Armee bewegen, Füsse schütteln

Wenn man sich ein wenig umschaut, kann man vom Übungsplatz aus den Campingplatz Gravas sehen, der sich im Waldstück ausbreitet. Dort lebt Sepp Stenger in einem gemütlich ausgebauten Wohnwagen. Ganz nahe an den Bergen, die in den Himmel ragen. Die Sonne lässt sich Zeit, dementsprechend sind die Hände kalt. In einem Kreis stellen sich die sechs Teilnehmenden auf. Alle haben einen anderen Beweggrund, heute anwesend zu sein. Aber alle verbindet die Liebe zum Freeriden und dem Touren. Sepp Stenger sagt: «Arme bewegen. Füsse schütteln. Kommt schneller, schneller.»

Erstaunlich, wie schnell das Blut in jede Ader des Körpers fliesst und ein wohliges Gefühl vermittelt. Jetzt kann der Lawinenkurs beginnen. Als Erstes möchte Sepp Stenger wissen, was vom letzten Kurs hängengeblieben ist.

«Weiss jemand noch, wie die Suche bei einem Lawinenabgang beginnt?» Von rechts meldet sich eine Frauenstimme. Man beginne mit der Signalsuche. Die sollte schnell durchgeführt werden. «Richtig.» Dann geht es weiter mit der Grobsuche. Es gilt, die Geschwindigkeit zu drosseln und aufmerksam dem Gerät zu folgen. Wichtig dabei ist, das Gerät stillzuhalten. Das aus dem Grund, weil es über Funk 457 kHz arbeitet. Von einem jungen Mann kommt der dritte Punkt. «Jetzt beginnt die Feinsuche. Wichtig ist, langsam zu gehen. So nahe wie möglich am Boden entlang.» Zu guter Letzt wird die Punktsuche durchgeführt. Mit der Sonde in der Hand. «Gut, das sind sehr wichtige Punkte, die ihr wissen müsst», sagt Sepp Stenger.

Das Wissen gibt Sicherheit

Weiter geht es mit einem Spiel. «Es muss schliesslich auch Spass machen.» Alle packen ihre Sonde aus. Jetzt wird geübt, wie man sie am besten und schnellsten benutzt. Schnell wird uns bewusst, dass man solche Dinge zu wenig übt. Sepp Stenger sagt, solche Szenarien können immer alleine oder in der Gruppe geübt werden. Zum Beispiel mit Freundinnen und Freunden, wenn es einmal schlechtes Wetter ist und man sowieso nicht auf den Berg kann. «Das Wissen wird euch die nötige Sicherheit am Berg geben.» In Zweiergruppenwird geübt,eine Person mit Augen geschlossen. Die andere legt einen Handschuh oder eine Schaufel in das geschaufelte Loch, sodass erspürt werden muss, was unter dem Schnee ist. Hoch konzentriert ist die ganze Gruppe bei der Sache.

Das Gespür ist gefragt.
Das Gespür ist gefragt.
Bild Jasmin Klucker
Teamarbeit bewirkt Grosses.
Teamarbeit bewirkt Grosses.
Bild Jasmin Klucker
Schaufeln, was das Zeug hält.
Schaufeln, was das Zeug hält.
Bild Jasmin Klucker

Sepp Stenger hat sich viele Gedanken gemacht, wie man solche Abläufe so gestalten kann, sodass sich die Teilnehmenden das Gelernte gut merken können. Viele Abläufe später kommt der Test an uns selbst. Ein extra abgestecktes Feld dient zur Simulation eines Lawinenabganges. Eine Person bleibt oben am Kegel und alarmiert die Rettung. Die anderen der Gruppe gehen in Abständen den Kegel hinunter und schauen dabei auf das Lawinensuchgerät, zum einen, was es anzeigt, zum anderen, wie es sich anhört, das Akustische sollte man nicht vergessen. Das Piepen wird intensiver, der Verschüttete ist immer näher. Gefunden. Nach dem Sondieren wird geschaufelt. Wenig später ist der verschüttete Rucksack von Sepp Stenger an der Oberfläche. Grinsend kommt Sepp Stenger den Lawinenkegel hinuntergelaufen. «Genau zwei Minuten und 20 ​Sekunden habt ihr dafür gebraucht.» Gute Leistung, sagt er. Währenddessen geben wir uns gegenseitig ein «high five».

«Nach etwa 15 Minuten leben nach einer Totalverschüttung noch etwa 90 ​Prozent der Verschütteten. 10 Prozent erliegen nach dem Stillstand der Lawine den tödlichen Verletzungen. Bist du 35 bis 90 ​Minuten verschüttet, überlebt man nur mit einer grossen Atemhöhle», erklärt der Profi. Mit diesen wertvollen Worten endet der Lawinenkurs im Tal. Sepp Stenger verabschiedet sich von seiner heutigen Gruppe. Er hat noch etwas ganz Besonderes vorbereitet, eine alpine Abseilaktion auf dem Piz Scalottas. Ein richtiges Highlight an diesem wunderschön sonnigen Tag.

Nieder mit der Krawatte

Mit dem Bügellift geht es den Berg hoch. Die positive Einstellung gegenüber dem Leben und den Bergen zeichnet Sepp Stengers Leben aus. Die Zeit auf dem Lift nutzt er, um von seinem Leben zu erzählen. Ein bewegte Zeit. Als Kind lieber im Schlagzeugkeller als in der Schule. Sein Traum: Musiker zu werden. Er spielte in unzähligen Bands mit, jedoch wusste er, dass man davon nicht leben konnte. Also kam der Tag, als seine Mutter ihn zur Bank schleppte, wo er anschliessend zehn Jahre als Vermögensberater und Zweigstellenleiter tätig war. Jedoch merkte er schnell, dass das nichts für ihn war. Schluss mit Karriere und Krawatte nieder mit Wertpapieren und Wechselkurs, es lebe der Slalomkurs – jetzt wird gelebt. «Sagte ich mir damals», erinnert sich Sepp Stenger.

Alpine Abseilaktion: was für ein Erlebnis.
Alpine Abseilaktion: was für ein Erlebnis.
Bild Jasmin Klucker
Steigeisen und Pickel dürfen nicht fehlen.
Steigeisen und Pickel dürfen nicht fehlen.
Bild Jasmin Klucker
Der Gipfel ruft.
Der Gipfel ruft.
Bild Jasmin Klucker

Von 1990 bis 1995 fuhr er im Burton-Europateam Weltcup-Snowboardrennen. 1995 folgte ein weiteres Highlight. Er konnte gemeinsam mit Joe Zangerl erfolgreich die Erstbefahrung des Avachavulkans in Kamtschatka mit dem Snowboard bewältigen. «Die Leidenschaft, von steilen Flanken zu fahren, teilte ich mit Ueli Bühler. Er war mein Wegbegleiter und Mentor im technischen, mentalen und sicherheitsrelevanten Umgang in steilen Flanken und überlebensnotwendigen Beurteilungen.» Sepp Stenger lebt jedoch nicht ohne weitere Ziele in seinem Leben. Als Nächstes steht die Besteigung des Kasbeks in Georgien mit über 5000 ​Höhenmetern im Alleingang und die Befahrung der Nordflanke mit einem Black-Diamond-Splitboard auf dem Plan. Faszinierend, wie gross eine Leidenschaft sein kann. Das Funkeln in seinen Augen kann man bei all diesen Erzählungen nicht übersehen.

Ein typisches Abseilmanöver

Zuoberst auf dem Piz Scalottas angekommen, überwältigt uns alle drei die schöne Berglandschaft. Sepp Stenger hat am Vortag schon alles vorbereitet. Aus seinem grossen Rucksack holt er zwei Seile. Samuel Bundi macht sich ebenso bereit. Die Klettergurte werden montiert. «Wir simulieren ein typisches Abseilmanöver, das man so oft auf Skitouren antrifft. Nicht zu steil, trotzdem kommt man ohne Abseilen nicht weiter», sagt Sepp Stenger. Ein unglaubliches Erlebnis mit viel Vertrauen zu Menschen, die wissen, was sie tun. Sicher unten auf dem Schneefeld angekommen, kann es weitergehen.

Die Sicherheit steht immer an erster Stelle. Samuel Bundi und Sepp Stenger gehen mit Steigeisen an den Füssen zurück auf den Grad. Oben umarmen wir uns. Mit viel Vertrauen konnten wir voneinander lernen.

Das hat den heutigen Tag von der ersten Sekunde an begleitet. Mit viel neuem Wissen und noch mehr Sensibilität für die Berge endet der Tag, der noch lange in Erinnerung bleiben wird.

Weitere Informationen:
seppstenger@gmail.com | 079 ​735 ​0096

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