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Das medizinische Zentrum in Arosa ist eine Anlaufstelle für alles

Arosa ist einer der Orte im Kanton, der am weitesten von einem Spital entfernt ist – ein Vormittag im medizinischen Zentrum.

Bündner Woche
10.04.24 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit

von Cindy Ziegler

45 Minuten braucht man mit dem Auto von Arosa nach Chur. Bei gutem Wetter, ohne Schnee und ohne Verkehr. 45 Minuten, die unter Umständen zu lange sind. 45 Minuten, die man bis ins nächste Spital braucht. Arosa ist damit einer der Orte im Kanton, die am weitesten von einem Krankenhaus weg sind. Ein Umstand, der die Grundversorgung der Menschen in Arosa zu einer Herausforderung macht. Und der lange Weg bis ins Tal erschwert das Aufrechterhalten eines funktionierenden Gesundheits­systems auch in anderen Belangen. Doch dazu später mehr.

Es ist der erste Donnerstagmorgen im April. Um 8 Uhr scheint die Sonne noch nicht ganz über die Berge, der Obersee ist mit einer Schicht Schnee und Eis bedeckt. Im medizinischen Zentrum erzählen die Fotografien an den Wänden von wärmeren Zeiten. Kühe auf Weiden, blaue Alpseen und bunte Wiesenblumen. Die medizinischen Praxisassistentinnen (MPAs) begrüssen mit einem freundlichen Lächeln und dem Angebot zum Du. Arzt Jonas Maxén tut es ihnen gleich. Noch ist es ruhig im Zentrum. Es gehört zur vor fünf Jahren gegründeten Gesundheit Arosa AG. Neben dem medizinischen Zentrum sind dieser auch das Alters- und Pflegeheim, die Spitex und die Ambulanz angeschlossen. Das Ziel davon? Ressourcen bündeln und Synergien nutzen.

Sprechstunde, Röntgen und Labor

Eine der ersten Patientinnen von Jonas Maxén ist ein eineinhalbjähriges Mädchen. Fröhlich rennt sie durch den Gang in Richtung Sprechzimmer. Währenddessen wird in anderen Räumen geröntgt, Blut genommen und ein EKG gemacht. Es sind Abläufe, die sich an diesem Morgen viele Male wiederholen. Sprechstunde, Röntgen, Labor. Jetzt, am Ende der Wintersaison, sind es vor allem die Patientinnen und Patienten der Hausarztpraxis, die den Weg ins Zentrum finden. Nun sei es deutlich ruhiger als die letzten Monate, erzählen die medizinischen Praxisassistentinnen. Und auch Jonas Maxén berichtet zwischen zwei Untersuchungen, dass seine Arbeitsauslastung im Jahresverlauf extrem schwankt. Zu Spitzenzeiten im Winter behandeln die MPAs sowie die Ärztinnen und Ärzte des Medizinischen Zentrums (190 Prozent Hausärzte, 60 Prozent Assistenzärztin zusammen mit Aushilfsärztinnen und -ärzten) bis zu 70 Personen am Tag. «Es kann vorkommen, dass drei Rettungsschlitten gleichzeitig von der Piste zu uns kommen. Wenn kein Flugwetter ist, müssen wir auch die schweren Fälle erstversorgen. In aller Regel ist die Ambulanz aus Arosa verfügbar. Wenn nicht, hoffen wir auf Chur. Wenn auch da keine zu hochgeschickt werden kann, dann müssen wir auf Thusis oder Schiers warten.» 

Vom Baby bis zu über 100-Jährigen

Es sind viele Wenns. Wer rechnet, kommt unter Umständen auf 1,5 Stunden, bis die Rettung in Arosa wäre. «Wir müssen breit aufgestellt sein. Wir behandeln hier vom Baby bis zu über 100-Jährigen alle. Von Routineuntersuchungen bis zu Notfällen. Anders als andere Hausarztpraxen sehen wir viel häufiger Patienten mit akut bedrohlichen Erkrankungen  wie Herzinfarkt oder Hirnschlag», erklärt der Arzt.


Hohe Arbeitsbelastung und Fachkräftemangel

Jonas Maxén ist in Arosa aufgewachsen. Während des Medizinstudiums sei er nicht sicher gewesen, in welche Richtung es gehen soll. Eine Aussage, die zweierlei Bedeutung hat. Eine fachliche und eine geografische. Beide Richtungen haben ihn aber wieder nach Arosa geführt. «Ich fand alle Spezialgebiete sehr spannend, wusste aber auch, dass es in der Hausarztmedizin am meisten Bedarf gibt. Auch, weil ich die Situation in Arosa kannte», erklärt er. 

In seinem Sprechzimmer stehen kleine Bilderrahmen, in denen glückliche Momente festgehalten sind. Fotos mit der Familie in der Natur, was die Lebensqualität an einem Ort wie Arosa ausmacht. Dass es trotzdem Probleme gibt, medizinisches Fachpersonal nach Arosa zu bekommen, hängt – und da sind wir wieder beim langen Weg – damit zusammen, dass sich viele nicht vorstellen können, das ganze Jahr in Arosa zu leben. Zudem gehen die interessierten Ärztinnen und Ärzte davon aus, dass man immer noch extrem viele Dienste und Stunden leisten muss. Viele der «alten Garde», welche nun in Pension gehen, machen das aktuell noch. Doch dass dies nicht zukunftsträchtig ist, hat man aber erkannt und es werden Lösungen gesucht und gefunden, damit die Arbeitsbelastung für die jungen Ärztinnen und Ärzte vertretbar und vergleichbar mit den städtischen Zentren wird. Sollte dies nicht gelingen, werden wohl keine jungen Leute mehr bereit sein, in den peripheren Regionen der Schweiz langfristig zu arbeiten und die Grundversorgung sicherzustellen. Gegen den Fachkräftemangel kann man in Arosa aber natürlich wenig unternehmen.

Fast alles: Abgesehen von CT und MRI verfügt das medizinische Zentrum über beinahe alle Geräte, die es für umfassende Untersuchungen braucht.
Fast alles: Abgesehen von CT und MRI verfügt das medizinische Zentrum über beinahe alle Geräte, die es für umfassende Untersuchungen braucht.
Bild Cindy Ziegler
Jonas Maxén, leitender Arzt des medizinischen Zentrums, testet die Reflexe der Bänder nach einem Skiunfall.
Jonas Maxén, leitender Arzt des medizinischen Zentrums, testet die Reflexe der Bänder nach einem Skiunfall.
Bild Cindy Ziegler

Die Asssistenzärtzin von Jonas Maxén steckt den Kopf ins Sprechzimmer. Sie benötigt Hilfe bei einer Kortisonspritze. Der Patient hat einen akuten Gichtschub im Fuss. Mit Ultraschall wird die genaue Einstichstelle eruiert. Routiniert zieht die Ärztin das Medikament in die Spritze, während Jonas Maxén den Patienten über mögliche Nebenwirkungen aufklärt. Währenddessen wechseln sich Telefon und Türklingel ab. Die medizinischen Praxisassistentinnen sind beim Empfang, bei der Abrechnung, beim Röntgen oder im Labor. Trotz viel Arbeit herrscht eine ruhige Stimmung. Alle wissen, was zu tun ist. Dann kommt ein Mann in rotem Tenue in die Praxis. Es ist ein Pistenretter, der eine junge Frau bringt. Sie ist beim Skifahren gestürzt und wird direkt zum Röntgen gefahren. Die Stimmung bleibt ruhig, das Fachpersonal routiniert.

Menschen und nicht Fälle

Während der kurzen Pause von Jonas Maxén wollten wir wissen, welche Herausforderungen es in Sachen Gesundheitsversorgung in Arosa gibt. Der Arzt überlegt kurz und meint, dass er darüber drei Stunden erzählen könnte. Er versucht es dann doch kürzer. «Wir haben zu wenige Hausärztinnen und Hausärzte. Das ist ein schweizweites Problem, das sich in Gebieten wie Arosa verstärkt. Ich bin überzeugt, dass die Grundversorgung nur gewährleistet ist, wenn genügend Leute an der Basis arbeiten, die breit aufgestellt sind», erklärt er. Und führt weiter aus, dass 80 bis 90 Prozent der Fälle in Hausarztpraxen behandelt werden könnten. «Je weniger Hausärztinnen und Hausärzte es gibt, desto mehr wird zu Spezialistinnen und Spezialisten oder ins Spital ausgelagert. Irgendwann bricht so das System zusammen.» Er erinnert an vergangene Winter, als Spitäler kaum mehr freie Betten zur Verfügung hatten. «Das ist schon jetzt ein Problem. Die Grundversorgung sollte meiner Meinung nach die erste Anlaufstelle für alle medizinischen Probleme sein, die nicht akut lebensbedrohlich sind.»

Der Schülerin, die beim Skifahren gestürzt ist, wird eine Knieschiene angepasst. Beim Röntgen konnte kein Bruch festgestellt werden. Jonas Maxén testet die Reaktion der Bänder. Er tippt auf eine Verletzung des Meniskus. Die Touristin soll das in ihrem Heimatkanton mit einem MRI überprüfen lassen.

Alle Fachpersonen behandeln hier Menschen und nicht Fälle. Hier wird ein kurzer Schwatz gehalten, dort gewitzelt. Neben den normalen Betriebszeiten der Praxis decken Jonas Maxén und sein Team zusammen mit der privaten Hausarztpraxis auch den Notfalldienst bis 22 Uhr ab. Ein Arzt oder eine Ärztin ist zudem immer auf Abruf bereit, wenn die Ambulanz ausrücken muss und einen Arzt oder eine Ärztin benötigt. Trotz Stress und viel Arbeit, die Patientinnen und Patienten und deren Wohlergehen stehen im Mittelpunkt. Es ist 12 Uhr. Mittagspause, auch im medizinischen Zentrum. Ausser im Notfall. Dann stehen die Türen immer offen.

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